Demokratie für alle? Wie zugänglich Bürger:innenbeteiligung wirklich ist.

Gastbeitrag von Lea Pehnt

Teilhabe für alle? Geloste Formate direkter Bürger:innenbeteiligung gelten oft als Lösungsansatz für Demokratien in der Krise. Doch welche Voraussetzungen muss man für eine Teilnahme mitbringen und wie erleben Teilnehmende die Anforderungen, denen sie begegnen?

Die Demokratie steckt in der Krise – diesen Eindruck teilen in diesen Zeiten wohl viele. Demokratien haben nicht nur ein, sondern mehrere Probleme, die zusammenhängen.

Einerseits ist die Wahlbeteiligung in vielen Ländern und Kommunen konstant niedrig. Vor allem weniger wohlhabende und gebildete Menschen gehen seltener wählen. Dadurch sind ihre Meinungen und Bedürfnisse schlechter in der Politik vertreten. Zusätzlich haben viele das Vertrauen verloren, dass ihre Stimme überhaupt zählt. Zu gross und global scheinen die Probleme, vor denen die Politik steht und zu eng ihre Verbindungen zu privilegierten Eliten [1]. Spätestens seit die mächtigsten Milliardäre der Welt in der ersten Reihe bei Donald Trumps Amtsantritt sassen, treten Zweifel darüber auf, wie viel Einfluss die einfachen Bürger:innen auf die Weltpolitik haben können. Rechtspopulistische und -extreme Parteien versprechen, die Sorgen der Bevölkerung besser als die etablierte Politik anzugehen. Dabei werden sie zunehmen als eine der grössten Gefahren für die liberale Demokratie gesehen [2].

Obwohl die Schweiz als eine der stärksten Demokratien weltweit gilt [3], gibt es auch hier eine hohe Unzufriedenheit mit dem aktuellen Zustand der Demokratie. 2023 waren etwa 46% der Bevölkerung eher unzufrieden mit der nationalen Demokratie insgesamt [4].

Bürger:innendialoge als Weg aus der Demokratiekrise?

Doch es gibt viele Ideen, wie man die Demokratie stärken und innovativ verändern könnte. Ein Ansatz ist es, die Bürger:innen direkt zu fragen, was sie brauchen. Raum zu geben, um Ideen zu schmieden, mit anderen ins Gespräch zu kommen, auch mal hitzig zu diskutieren und sich am Ende auf den bestmöglichen Kompromiss zu einigen. Dieser deliberative Prozess des Austauschs und der Abwägung von Argumenten ist der Kerngedanke von Projekten wie Bürger:innendialogen, -foren oder -panels. Dafür werden Personen zufällig ausgelost und so zusammengestellt, dass sie die Gesellschaft möglichst gut repräsentieren – quasi eine Gesellschaft im Miniaturformat [5]. Zusammen sollen sie Vorschläge für die Politik entwickeln. Die Auslosung ermöglicht es, Personen einzubinden, die sonst nicht viel mit Politik am Hut haben. Ausserdem begegnen sich Menschen, die sich im Alltag wahrscheinlich selten treffen, geschweige denn über ihre Sorgen und Erwartungen an die Politik sprechen. Das kann ein Gefühl von gegenseitigem Verständnis und demokratischen Zusammenhalt stärken. Deliberative demokratische Verfahren (DDV), so der Überbegriff, gelten deshalb als Hoffnungsträger, um anti-demokratischen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Gemeinsam am Tisch: Mehr Bürger:innen-Beteiligung für eine starke Demokratie?

Politische Teilhabe und soziale Prägung: Wer fühlt sich angesprochen?

Doch mit einer zufällig ausgelosten Gruppe ist es nicht getan. Die Frage ist, wie zugänglich solche Formate besonders für diejenigen sind, die sich auch sonst seltener an politischen Prozessen beteiligen. Mit einer Gruppe Fremder über Politik zu diskutieren, ist voraussetzungsreich. Es erfordert Wissen und Selbstvertrauen, mit anderen Worten, eine gewisse Haltung [6]. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu nannte diese Haltung Habitus [7]. Der Habitus beschreibt die Art und Weise, wie man unterbewusst denkt, spricht, handelt – und wie selbstverständlich man sich in unterschiedlichen Situationen bewegt. Dieser Habitus wird im Aufwachsen geprägt, im Elternhaus, in der Nachbarschaft, in Schule, Vereinen und Beruf. Und er ist in der Gesellschaft sehr unterschiedlich ausgeprägt, je nach Einkommen, Bildungsstand und anderen Faktoren. Deshalb habe ich mich in meiner Masterarbeit gefragt: Wer nimmt warum an deliberativen Verfahren wie Bürger:innenräten teil? Wie geht es den Menschen damit? Und wie gehen sie, abhängig von ihrem Habitus, damit um?

Um diese Frage zu beantworten, durfte ich das Bürger:innenpanel des Demokratielabors Basel wissenschaftlich begleiten.

Beispiel Demokratie Labor Basel: Wer kann sich wirklich einbringen?

Bei zwei ganztätigen Veranstaltungen kamen knapp vierzig ausgeloste Menschen zusammen und diskutierten die Frage, wie man die Schweizer Demokratie stärken und verbessern könnte. Neun von ihnen konnte ich interviewen: Männer und Frauen von Schul- bis Rentenalter, mit unterschiedlichen politischen Einstellungen, Vorwissen, Bildungshintergründen, Einkommen und Migrationsgeschichten. Ich fragte sie zu den Gründen ihrer Entscheidung zur Teilnahme am Panel des Demokratielabors, und wie sie die Veranstaltung erlebt hatten. Ausserdem sprachen wir über ihr Aufwachsen und Leben, und wie diese Erfahrungen ihr Erlebnis der Teilhabe prägten.

In der Analyse kristallisierte sich heraus, wer die besten Voraussetzungen hat, sich in solchen Formaten einzubringen. Es zeigte sich nämlich, dass die aktive Teilnahme nicht nur von Interesse oder Motivation abhängt. Der persönliche Hintergrund, die Bildung und vorheriges politisches oder freiwilliges Engagement spielten dabei eine grosse Rolle.

Lea als stille Beobachterin an der Bürger:innen-Versammlung.

In den Gesprächen beobachtete ich immer wieder ein ähnliches Muster: Menschen mit einem höheren Bildungsgrad und einem fundierten politischen Vorwissen freuten sich auf die Veranstaltung und machten sich keine Sorgen, ob sie genügend gehört würden. Sie waren meist selbstbewusster und argumentierten strukturiert, klar und überzeugend. So nahmen sie auch den meisten Raum in Gruppendiskussionen ein. Sie schienen förmlich in ihrem Element zu sein.

Auf der anderen Seite gab es Teilnehmende, die zwar ebenso gute Ideen und Anliegen mitbrachten, aber teilwiese Schwierigkeiten hatten, sich einzubringen. Im Vorfeld der Veranstaltung waren sie besorgt, ob diese vielleicht zu elitär und abgehoben sein könnte. Sie waren skeptisch, ob sie sich gleichberechtigt einbringen können würden. Teilweise hielten sie sich aus Unsicherheit zurück und rangen in Gruppendiskussionen darum, ihre Gedanken angemessen auszudrücken.

Das liegt nicht daran, dass ihnen das Engagement fehlte – im Gegenteil! Vielmehr spiegelt sich hier ein grundlegendes Problem wider: Die Kompetenzen, die in deliberativen Verfahren oft als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sind keineswegs gleich verteilt. Formate wie das Bürger:innenpanel in Basel funktionieren häufig nach bestimmten Regeln, die eng mit einem bestimmten Habitus verknüpft sind. Dieser Habitus – geprägt durch Bildung, politische Erfahrung und die Vertrautheit mit solchen Formaten – verschafft einigen Menschen einen klaren Vorteil. Andere fühlen sich dagegen schnell ausgeschlossen, obwohl sie genauso zur demokratischen Meinungsbildung beitragen möchten und sollten.

Diese strukturell unterschiedlichen Voraussetzungen sind eine Herausforderung für alle deliberativen demokratischen Verfahren. Wenn Beteiligung wirklich alle erreichen soll, dann müssen Veranstaltende die unterschiedlichen Voraussetzungen der Teilnehmenden ernst nehmen und gezielt darauf eingehen.

Plenumsdiskussion an der Bürger:innen-Versammlung.

Mehr Chancengleichheit in der Bürger:innenbeteiligung: Wege zu gerechteren deliberativen Verfahren

Was wären mögliche Massnahmen, um deliberative Verfahren gerechter zu gestalten? Die Moderatorinnen und Moderatoren spielen eine zentrale Rolle in diesen Prozessen. Sie sollten stärker darauf vorbereitet werden, die unterschiedlichen Hintergründe und Bedürfnisse der Teilnehmenden zu erkennen und gezielt darauf einzugehen. Auch die Vorträge von Expert:innen sollten so gestaltet werden, dass sie alle Teilnehmenden abholen, Fachvokabular erklären und mit gut verständlichen Grafiken arbeiten. Gerade für Menschen mit geringerem Vorwissen können begleitende Materialien oder einführende Workshops eine enorme Hilfe sein. Hier könnten einfache, gut verständliche Informationen und gezielte Unterstützung dabei helfen, die «Spielregeln» deliberativer Verfahren besser zu verstehen. Zuletzt ist es nicht selbstverständlich, dass sich alle einen ganzen Tag Zeit nehmen können, wenn auch andere wichtige Aufgaben anstehen. Deshalb sollte eine finanzielle Entschädigung für dieses Engagement selbstverständlich sein. Zusätzlich könnte etwa Kinderbetreuung angeboten werden.

Wenn diese und ähnliche Massnahmen berücksichtigt werden, könnten wir deliberative Verfahren zugänglicher und inklusiver gestalten. Schliesslich lebt Demokratie von der Vielfalt – und die sollte sich auch in der Bürger:innenbeteiligung widerspiegeln.

Quellen

[1] Bein, Simon. 2018. «Von der Demokratie zur Postdemokratie? Ein Vorschlag zur Neuformulierung eines umstrittenen Konzepts». ZPTh – Zeitschrift für Politische Theorie 9 (1): 51–72. https://elibrary.utb.de/doi/abs/10.3224/zpth.v9i1.03.

[2] Pickel, Gert, und Susanne Pickel. 2023. Die Bürger in der Demokratie. 1. Auflage. Brennpunkt Politik. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

[3] Nord, Marina, Martin Lundstedt, David Altman, Fabio Angiolillo, Cecilia Borella, Tiago Fernandes, Lisa Gastaldi, u. a. 2024. «Democracy Winning and Losing at the Ballot: Democracy Report 2024». V-Dem Institute Report. https://doi.org/10.2139/ssrn.4774409.

[4] Bieri, Urs, Tobia Keller, Che Wagner, Ivo Scherrer, und Nathalie Klauser. 2023. «Ist die Schweizer Demokratie bereit für die Zukunft? Demokratiemonitor 2023». Pro Futuris. https://uploads-ssl.webflow.com/64db3b554aa3bee5b2924914/64f210f26d8bc147f954f5bc_230901_ProFuturis_Demokratiestudie.pdf.

[5] Merkel, Wolfgang, Filip Milacic, und Armin Schäfer. 2021. Bürgerräte. Neue Wege zur Demokratisierung der Demokratie. Wien: Friedrich-Ebert-Stiftung.

[6] Geiling, Heiko. 2013. „Habitus und Politik: Zum Habituskonzept in der Politikwissenschaft“. In Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus, herausgegeben von Alexander Lenger, Christian Schneickert, und Florian Schumacher, 361–375. Wiesbaden: Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-531-18669-6_19.

[7] Bourdieu, Pierre. 2021 [1987]. Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 28. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Über die Autorin Lea Pehnt: Lea Pehnt hat Soziologie und Politikwissenschaft im Master an der Universität Basel studiert. Seit sie einen Bürger:innenrat als Projektmitarbeiterin begleitet hat, beschäftigt sie sich intensiv mit unterschiedlichen Formen demokratischer Beteiligung. Besonders wichtig sind ihr dabei Fragen nach der Zugänglichkeit und Wirksamkeit verschiedener Ansätze. Dieser Beitrag nimmt Bezug auf ihre Masterarbeit in Soziologie “Teilhabe für alle? Habitus in deliberativen demokratischen Verfahren.”, Universität Basel, 2024

Bein Interesse kann die vollständige Arbeit über leapehnt@gmail.com angefragt werden.

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