Wie misst man Demokratie?
Welche Faktoren machen eine Demokratie stark? Und wie lässt sich die Qualität einer Demokratie messen? Demokratie bedeutet mehr als nur «Herrschaft durch das Volk». Der Begriff hat sich in mehreren Wellen weiterentwickelt zu dem, was wir heute unter einer «liberalen Demokratie» verstehen, also eine Staatsform, die die individuelle Freiheit hochhält. Eine funktionierende Demokratie umfasst also weit mehr als nur das Recht, die politische Vertretung zu wählen.
Die liberale Demokratie, wie wir sie heute kennen, basiert auf mehreren grundlegenden Prinzipien:
Machtteilung – sowohl horizontal (zwischen Regierung, Parlament, Gerichten und dem Volk) als auch vertikal (z. B. zwischen Bund und Gliedstaaten in föderalen Systemen).
Grundrechte – etwa das Recht auf Leben (und Verbot der Todesstrafe), Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz und Schutz vor Diskriminierung nach Vermögen, Geschlecht, Hautfarbe/Ethnie, sexueller Orientierung etc.
Politische Teilhabe – die Möglichkeit, sich aktiv in den demokratischen Prozess einzubringen, sei es durch Wahlen oder durch andere Formen der Mitbestimmung.
Doch Demokratie kann noch weiter gefasst werden. Zum Beispiel auf Verteilungsfragen: Wie werden Ressourcen verteilt? Haben alle Zugang zu Bildung? Oder auf die Qualität des politischen Diskurses: Wie wird politischer Diskurs geführt? Wie werden politische Entscheidungen getroffen? Diese Aufzählung ist keineswegs vollständig, sondern zeigt, wie sich Demokratie entwickelt hat und was heute darunter verstanden werden kann.
Demokratiequalität – eine Frage der Messung
Demokratie ist nicht einfach «erfüllt» oder «nicht erfüllt», sondern zeigt sich in graduellen Unterschieden. Um sie zu messen, versuchen Wissenschaftler*innen, ihre Qualität anhand bestimmter Kriterien zu bewerten und untereinander zu vergleichen. Ein besonders ambitioniertes Projekt ist V-Dem (Varieties of Democracy = Varianten der Demokratie) der Uni Göteborg in Schweden. Ziel des Projekts ist, die demokratischen Merkmale – und somit die Demokratiequalität – aller Staaten zu messen und vergleichbar zu machen.
Der Gesamtindex LDI (Liberal Democracy Index) zeigt, wie demokratisch ein Staat ist, und bewertet ihn anhand von fünf Hauptkomponenten:
Liberale Komponente – Schutz individueller Rechte und Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit und richterliche und parlamentarische Kontrolle der Exekutive.
Ausgestaltung von Wahlen –Meinungsfreiheit und Versammlungsrechte, Wahlrecht und Qualität der Wahldurchführung.
Gleichheit – inwieweit alle sozialen Gruppen gleiche politische Teilhabechancen haben.
Partizipation – wie aktiv und unmittelbar Bürger:innen in politischen Prozessen mitwirken und sie mitgestalten können.
Deliberation – inwieweit sind politische Debatten auf das Gemeinwohl fokussiert statt Partikularinteressen und basieren politische Entscheidungen auf sachlicher Argumentation statt rein emotionalen Appellen.
Das V-Dem-Projekt fasst den Demokratiebegriff sehr weit und ermöglicht gleichzeitig den Fokus auf einzelne relevante Komponenten. Die Indikatoren werden einerseits über öffentlich zugängliche Informationen und Statistiken erfasst und andererseits von mehreren Länderexpert:innen bewertet. Diese Expert:innen kennen das jeweilige Land sehr gut aus lokarler oder wissenschaftlicher Perspektive und ihre Einschätzungen fliessen als Mittelwert in die Bewertung ein.
Die besten Demokratien weltweit
Laut dem V-Dem-Report von 2024 gehören Dänemark, Schweden, Estland und die Schweiz zu den Ländern mit der höchsten Demokratiequalität, wobei die Abstände zwischen den Ländern sehr gering sind. Als Schweiz rangieren wir in der Liste der 20 Länder mit den stärksten Demokratien auf Platz vier – insbesondere stark sind wir in der politischen Partizipation und dem sachlichen Diskurs, also der Deliberations-Komponente dank gut funktionierenden Prozessen der direkten Demokratie. Schwächer sind wir in den Bereichen Gleichheit, Wahlen und liberale Komponente. Erklärbar ist das mit der tiefen und ungleichen Beteiligung an Wahlen und Abstimmungen und mit der Tatsache, dass aufgrund des hohen Ausländer:innen-Anteils ein grosser Teil der Bevölkerung nicht stimm- und wahlberechtigt ist.
Auffällig ist: Wohlstand und Demokratiequalität gehen oft Hand in Hand – aber nicht immer. Länder wie Estland, Tschechien, Chile oder Costa Rica zeigen, dass auch Staaten mit weniger ökonomischer Macht eine starke Demokratie aufbauen können.
Tabelle: Top-20-Länder mit bester Demokratiequalität (LDI-Gesamtindex und fünf Einzelkomponenten)
Quelle: V-Dem Democracy Report 2024
Fazit: Demokratie als stetiger Prozess
Demokratie ist kein statisches System, sondern entwickelt sich ständig weiter. Ihre Qualität hängt davon ab, wie gut eine Gesellschaft Mitbestimmung ermöglicht, Grundrechte schützt und politische Prozesse offen gestaltet. Die Bewertung durch Projekte wie V-Dem hilft, Stärken und Schwächen aufzuzeigen – und somit auf Verbesserungspotenzial hinzuweisen. Dies selbst in Staaten, die so manche:r als die ideale Demokratie versteht.
Dieser Blogbeitrag fasst die wichtigsten Punkte zusammen eines mündlich präsentierten Beitrags von Daniel Schwarz an unserer Bürger:innen-Versammlung im Frühjahr 2024.