Bürger:innen-Räte als Chance für unsere Demokratie?
In vielen Ländern wurde in den vergangenen Jahren auf partizipative und deliberative Ansätze zurückgegriffen, um die Bürger:innen verstärkt direkt an politischen Entscheidungsfindungsprozessen zu beteiligen. Abgesehen von einigen wenigen Pilotprojekten entzieht sich die Schweiz diesem Trend noch weitestgehend. In diesem Beitrag wird anhand von zwei Beispielen aufgezeigt, wie solche Ansätze die bestehenden demokratischen Institutionen auf kantonaler und lokaler Ebene ergänzen könnten.
Seit einigen Jahren zeigt sich deutlich, dass sich die modernen Demokratien in einer Krise befinden. Zum einen nimmt weltweit die Anzahl der Demokratien seit 2005 stetig ab. Immer mehr Länder gleiten in autoritäre Regimes oder gar Diktaturen ab. Zum anderen zeigen sich auch bei den etablierten, «alten» Demokratien immer öfter Verschleisserscheinungen wie eine stagnierende oder sinkende Wahlbeteiligung, wachsender Vertrauensverlust der Bürger:innen in Regierung, Parlament und Parteien oder eine ausufernde Polarisierung.
Als eine Antwort auf diese oft als «democratic backsliding» oder «democractic recession» bezeichnete Entwicklung wird immer häufiger auf neue partizipative und deliberative Ansätze zurückgegriffen, um die Bürger:innen verstärkt direkt in die politischen Entscheidungsfindungen einzubeziehen (vgl. dazu diesen Blogbeitrag). Zu den bekanntesten Beispielen gehören die irischen «Citizen Assemblies». Dies sind Gremien aus bis zu 100 per Zufallsprinzip ausgewählten Bürger:innen, die anstelle des Parlaments beauftragt werden Lösungsvorschläge für bestimmte gesellschaftliche Herausforderungen zu entwickeln, die dann in Referenden der Stimmbevölkerung vorgelegt werden. In Irland wurden so z.B. gesetzliche Regelungen für den Schwangerschaftsabbruch oder die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt.
Neben dieser Form der Bürgerbeteiligung kommt weltweit eine kaum noch zu überschauende Vielzahl an ähnlichen Verfahren zum Einsatz (für einen Einstieg dazu vgl. OECD oder buergerrat.de). Der vorliegende Beitrag fokussiert sich auf eine noch eher seltene Form der Bürger:innen-Beteiligung: die sogenannten «Citizen Councils». Diese ähneln den irischen «Citizen Assemblies» sollen jedoch im Gegensatz zu diesen nicht nur Beschlüsse zu einem bestimmten Thema treffen und danach aufgelöst werden, sondern vielmehr als ständige Institutionen – vergleichbar mit einer zweiten Parlamentskammer – die bestehenden demokratischen Instrumente ergänzen.
Präsentiert werden noch vorläufige Ergebnisse einer Studie, die im Rahmen des «Demokratie Labor Basel» erstellt worden ist. Im Rahmen der Studie wurde anhand von Beispielen aus dem Ausland jeweils ein mögliches Modell eines «Citizen Councils» für die Kantons- und die Gemeindeebene entwickelt.
Kantonale Ebene
Wie ein solcher deliberativer Ansatz in Form eines ständigen Bürgerrats als «zweite Parlamentskammer» in die bestehenden demokratischen Institutionen eines Kantons eingefügt werden könnte, wird in Abbildung 1 am Beispiel des Kantons Basel-Stadt aufgezeigt.
Basis-Elemente:
Für einen Kanton mit der Grösse und der Struktur des Kantons Basel-Stadt würde ein Bürger:innen-Rat bestehend aus 60 Mitgliedern genügen. Im vorliegenden Beispiel wurde zudem die Mandatsdauer auf ein Jahr festgelegt und bestimmt, dass auch Jugendliche ab 16 Jahren Einsitz nehmen können. Selbstverständlich wäre es auch möglich diese Details anders zu festzulegen (z.B. längere Mandatsdauern oder, dass auch Ausländer:innen Einsitz nehmen dürften).
Die Mitglieder des Bürger:innen-Rates werden nicht gewählt, sondern nach dem Zufallsprinzip aus dem Einwohnerregister ausgewählt (Bürger:innen-Lotterie).
Ein Sekretariat unterstützt den Bürgerrat administrativ und führt die jährliche Auslosung der Bürgerrätinnen durch. Aus Effizienzgründen könnte dafür auch auf das bestehende Sekretariat des Grossen Rates zurückgegriffen werden.
Optionale Elemente:
Der Bürgerrat hat das Recht zu bestimmten Themen (z.B. eine bestimmte Gesetzesvorlage) Bürgerversammlungen Diese widmen sich während einigen wenigen Monaten diesem einen Thema und sollen Handlungsempfehlungen und Vorschläge zuhanden des Bürgerrates ausarbeiten. Die Mitglieder der Bürgerversammlungen werden ebenfalls mit Hilfe der Bürger-Lotterie nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Bürgerversammlungen können als temporäre Kommissionen betrachtet werden, die ihr Mandat vom Bürgerrat erhalten.
In einigen Beispielen im Ausland wurden zudem Aufsichtskomitees bestimmt, die die Arbeit der Bürgerräte evaluieren sollen. Sie verfügen jedoch nicht über die Kompetenz direkt in deren Arbeit einzugreifen.
Befugnisse/Kompetenzen:
Der Bürgerrat ist grundsätzlich frei in der Wahl der Themen, mit denen er sich befassen möchte. Denkbar ist aber auch, dass er neben selbstgewählten Themen auch vom Regierungs- oder dem Grossen Rat «Aufträge» erhält. Der Grosse Rat ist verpflichtet Anliegen und Aufträge aus dem Bürgerrat nach spätestens sechs Monaten zu beantworten bzw. zu bearbeiten.
Der Bürgerrat kann Interpellationen einreichen, die im Grossen Rat analog zu den von dessen eigenen Mitgliedern eingereichten parlamentarischen Vorstössen behandelt werden müssen.
Zudem kann der Bürgerrat Evaluationen bestimmter Politikbereiche fordern.
Der Bürgerrat kann weiter auch Gesetzesvorschläge einreichen, die anschliessend im Grossen Rat diskutiert und allenfalls angepasst werden.
Denkbar wäre auch, dass man noch einen Schritt weitergeht und der Bürgerrat auch Bürgerratsinitiativen überweisen kann. Diese müssten analog zu den Volksinitiativen vom Grossen Rat behandelt werden. Er kann diese aber inhaltlich nicht abändern, sondern lediglich der Bevölkerung zur Annahme oder Ablehnung empfehlen oder allenfalls einen Gegenvorschlag ausarbeiten.
Ein weiteres optionales Element wäre das partizipative Budget. Dabei können die Bürger:innen selbst entscheiden, für welche Projekte sie einen bestimmten Teil des kantonalen Budgets verwenden möchten. Der Bürgerrat würde dafür 1x pro Jahr ein generelles Thema «Umweltschutz» oder «Schulen» vorgeben.
Lokale Ebene
Wie auf lokaler Ebene ein ständiger Bürgerrat in die bestehenden Strukturen eingebettet werden könnte, geht aus Abbildung 2 hervor. Dieses Modell ist jedoch nicht für Städte mit eigenen Parlamenten gedacht – für diese käme eher ein Modell analog zu den Kantonen in Frage – sondern vielmehr für kleinere Gemeinde mit 3-5’000 Einwohner*innen.
Obschon die zentralen Elemente wie der Bürgerrat und die Bürger-Lotterie beibehalten worden sind, wurde viel vereinfacht und an die Erfordernisse und Strukturen der lokalen Demokratie angepasst. Wichtig ist, dass auch in diesem Beispiel der Bürgerrat die Möglichkeit hat neben unverbindlichen Vorstössen zuhanden des Gemeinderats auch verbindliche Bürgerrechtsinitiativen, über die dann direkt an der Gemeindeversammlung oder in einer Volksabstimmung entschieden wird, einzureichen. Somit geht auch klar hervor, dass der Bürgerrat in diesem Modell als Ergänzung der Gemeindeversammlung und nicht als deren Ersatz konzipiert ist.
Schlussfolgerungen und Ausblick
Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern hat die Entwicklung hin zu partizipativen und deliberativen Ansätze der Demokratie in der Schweiz noch nicht richtig Fahrt aufgenommen. Zwar wurden in den letzten Jahren einige Pilotprojekte lanciert (vor allem in grösseren Städten), jedoch handelt es sich fast ausschliesslich um Projekte mit einem konsultativen Charakter. Fast nie wurden im Rahmen dieser Projekte konkrete Entscheidungsbefugnisse direkt an die Bürger:innen delegiert. Dies ist jedoch bei den hier präsentierten Ansätzen ein zentraler Aspekt. Die Mitwirkung der Bürger:innen beschränkt sich nicht nur auf Feedback und unverbindliche Vorschläge, sondern zusätzlich wird auch ein Teil der Entscheidungskompetenz von den bisherigen Institutionen (und von den Politiker:innen) hin zu den Bürgerräten verschoben. Erfahrungen im Ausland haben gezeigt, dass dies von den Bürger:innen geschätzt wird. Sie wollen ernst genommen werden, sind bereit einen Beitrag zu leisten und Verantwortung zu übernehmen.
Dennoch – oder gerade deshalb – dürften es aber Ansätze wie die hier skizzierten Bürgerräte in der Schweiz nach wie vor schwer haben. So zeigt sich die Politik diesen Ansätzen gegenüber als sehr skeptisch, was sich anhand der Reaktionen zum Vorschlag zur Einrichtung eines «Klimarates» exemplarisch zeigen lässt. Zudem scheint der Problemdruck auf die Schweizer Demokratie weniger stark ausgeprägt als im Ausland auszufallen. Doch immun gegenüber den eingangs erwähnten Herausforderungen ist auch die Schweizer Demokratie nicht. Insofern wäre es bedauerlich, wenn solche Ansätze nicht vermehrt auf zumindest lokaler und kantonaler Ebene ausprobiert und an die spezifischen Rahmenbedingungen der Schweizer Demokratie und Politik angepasst würden. Dies wäre eine Chance zu einem weiteren Ausbau und Modernisierung der Demokratie, die wir nicht verpassen sollten.
Über den Autor Jan Fivaz:
Jan Fivaz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts Public Sector Transformation der BFH Wirtschaft. Er untersucht im Rahmen eines Forschungsprojektes die Benutzung der Online-Wahlhilfe smartvote.